Avet Terterian und Westliche Moderne

Heinz-Erich Gödecke
Avet Terterian und westliche Moderne

Ein Vergleich zweier Musikkulturen Das Selbstverständliche im Hintergrunddenken ist in Armenien und Westeuropa deutlich verschieden. Dieses habe ich gelernt auf meinen Reisen, natürlich langsam, aber mit umso grösserer Verwunderung. Ich möchte diese Hintergründe ausleuchten: bei Terterian (verwurzelt in armenischer Tradition) und in der westeuropäischen Moderne. Direkt und zupackend, so ist die Musik Avet Terterians aus Armenien. Musikalische Momente werden dramaturgisch klar gesetzt, geraten zu Signalen, Zeichen, werden Symbole. Lang anhaltende Entwicklungen, sensibel intensive Klangschichtungen erzeugen eine Sogwirkung, der sich fast niemand entziehen kann. Eine klare und präzise Ästhetik vermittelt fraglose Botschaften, fest in der Tradition verwurzelt. In Westeuropa liegen die Schwerpunkte zumeist anders: fragende Selbstreflexion, Kritizismus, Traditionsabkopplung sind prägende Inhalte des westlichen Avantgarde-Begriffs. Botschaften werden fragmentarisch ausgedeutet, Traditionen gilt es im Fortschrittsbewußtsein zu überwinden. Das “Jetzt’ ist wichtig und hat auch seine positive Bedeutung. überzeitlich heißt hier: möglichst eine Abkopplung von der Musikgeschichte.

Terterian kennt die westliche Ästhetik und ihre Techniken, lebt aber aus seiner armenischen Kultur, aus osteuropäischem Umfeld. Seine dunkel gefärbte Musik ruht auf einem von Tragik bestimmten Weltbild. Die Elemente dieser Musik stehen jedoch leidenschaftslos im Raum und öffnen den Blick auf Wesentliches: seine Musik wird Tor zur Mystik. Natürlich ist das Lebensgefühl in so entfernten Ländern sehr verschieden. Armenien liegt im Südosten Europas, umgeben von islamischen Ländern und Kulturen, Iran, Aserbeidschan, Türkei. Leidenschaftliche tiefe Emotionalität prägt hier die Musikkultur. Dieser orientalische Einfluß ist in der armenischen Musik unüberhörbar. Lange getragene Töne, zum Hineinhorchen einladend, auf der Duduk mit Zirkularatmung geblasen, werden zu langen Melodie-Linien aufgebaut, wachsen zu konzentrierter Stille. Im Gegensatz hierzu stehen Mentalität und Lebensgewohnheiten in Deutschland. Westeuropäer neigen zum Verstecken von Bedeutungsvollem, stehen eigener Gefühlswelt kritisch gegenüber. Das hiesige Avantgarde-Verständnis ist von diesem Umstand stark geprägt. Der selbstreflexive Kritizismus, Andeutungsästhetik, körzelhafte punktuelle Verwendung von musikalischen Einfällen haben hier ihre Ursache. Unterdrückung von Emotionalität, Verhindern eines dramaturgischen Flusses und Zersplitterung zeichnen das Bild der Neuen Musik: Dekonstruktivismus als Analyse.

Die gegenwärtige Situation der westlichen Kultur ist jedoch geprägt von der Erschöpfung dieser Avantartgarde-Idee. Die “Moderne’ ist zu Ende. Die Begriffe “Postmoderne’, “zweite Moderne’ zeigen allein schon an, daß eine Veränderung herbeigemüht wird, aber grundlegend neue Ideen nicht oder kaum ersichtlich sind. Man kann (wieder) alles machen, Melodie, Collage verschiedenster Stile, Abstraktes. Aber der Grundgedanke des Wozu und Wohin wird nicht neu aufgearbeitet. Von Überzeugungskraft durchdrungenene neue Standpunkte lassen sich schwer ausmachen. John Coltrane, Nono, Cage, Messiaen, Webern, Schönberg sind längst Kulturgeschichte. Jetzt lebende Künstler sind herausgefordert; eine Chance?

In dieser Situation ist der Einblick in andere Kulturkreise lehrreich. Aber nicht, wie so häufig, um nur die Exotik des Fremden als Kolorit einzufangen oder die Authentizität der bisher anderen, einsamen, unberührten Musikkultur als Hort der Wahrheit zu bestaunen. Es gilt grundlegende Fragen neu zu stellen. Warum Musik? Warum so? Wozu waren die Kriterien der Avantgarde-Idee gut? Ihren Sinn müssen wir wieder aufdecken, um die Erfüllung dieser Aufgaben mit neuem Mitteln zu erfüllen. Ein Blick über die Grenzen kann dabei ideenreiche Antworten bescheren, z.B.: Bejahung ist entscheidender als Kritik. In Terterians kompositorische Arbeit einzudringen ist zweifach wertvoll: sie ist uns nah (er schreibt Symphonien) und fern (er wurzelt in armenischer Kultur, die im Schnittpunkt orientalischer und christlicher Einflüsse gewachsen ist). So nimmt er andere Standpunkte ein, der Beweggrund seiner Musik ist anders, er arbeitet aber in westlichen symphonischen Formen, verwendet kenntnisreich westliche Kompositionstechniken. Die Musiktradition Armeniens ist ihm jedoch Heimat, die er erweitert, aber nicht im Fortschrittsglauben zu überwinden trachtet.

Er ironisiert nicht, sondern lotet die Tiefe seiner alten Musik aus. Er bringt vorchristliches Wissen mit armenischem Christentum zusammen.

Unsere westliche Postmoderne und rational komplexe Vielfältigkeit läßt eine solche beschriebene Direktheit nicht zu. Und sollte es auch nicht, läuft aber Gefahr dabei im Unverbindlichen stecken zu bleiben. Die Ernsthaftigkeit dringt nicht aus ihrem Versteck, wo sie verschämt untergebracht wurde.

In der Kürze ist zweifelsohne zu einfach geurteilt, aber die Unterschiede sollten dabei deutlich werden. Ist West-Europa gibt es vielfältige Ansätze außerhalb des Mainstreams, auch gerade bei den bedeutenden Komponisten.

Ich möchte an wenigen Beispielen das Gesagte verdeutlichen: zwei kleine
Geschichten:

  1. Bei meinem ersten persönlichen Kennenlernen sprach Avet Terterian über seine Ablehnung von John Cage: man solle bei seinen historischen Wurzeln bleiben, nicht andere Wurzeln sich aneignen (bei Cage: Zen-Buddhismus). Ich war sehr verwundert über diese zwar einsichtige Argument, aber Cage ist und war ein großer Erfinder, hat das Geistige im Alltag bewusst gemacht. In meiner westlichen Kultur gilt das momentane “Jetzt’ als wichtig. Meine Überraschung hat mich gelehrt: es gibt andere fundierte Einstellungen, meine Selbstverständlichkeit war in Frage gestellt.
  2. Der deutsche Komponist Dieter Schnebel (ich finde ihn sehr bedeutend) stellt verschiedenste Materialien einander gegenüber, setzt Gegenwart und Vergangenheit, profan und sakral in ein Verhältnis. In seinen Choralvorspielen für Phonogramm, Orgel und Instrumente ist das Geräusch einer Dampflokomotive verwendet. Es mischt sich mit dem Zischen und Jaulen von Orgelpfeifen. Zur Zeit der Komposition (ca. 1967/1969) waren Dampflokomotiven Gegenwart, heute nicht mehr, sie wirken romantisch, nostalgisch. Mit einem kleinen Ensemble wollen wir dieses Stück in einer Kirche wieder aufführen und befragten Schnebel zu dem Problem, seine Antwort: in München gibt es eine Metro, die zischende und pfeifende Geräusche produziert, die könne man nehmen.

Dies zeigt kurz und beispielhaft und praktisch, wie die Einbeziehung des Jetzt ästhetisches Gewicht hat. In Terterians Phonogrammen kommt dieses Problem so leicht nicht vor, seine Musik hat das Überzeitliche als Hintergrund. Terterians Musik ist im äußeren Erscheinungsbild mit seinen Sinfonien und westlich geschultem Klangmaterial, mit seinem Verzicht auf neoklassische Methoden unserer modernen westlichen Kultur sehr nahe.

In seinen Beweggründen ist er aber völlig anders. Hier bildet seine Heimat Armenien ein hörbar geistiges Rückgrat. Das macht ihn für uns so bedenkenswert.

Abstract in English:

The musical thinking of Avet Terterian is intentionally developed from the tradition of his homeland. He [pushes] his composition techniques, which are very clearly chosen. His musical message is direct, without deviation, and very clear. It sounds unambitious like a matter of life and death. In this relationship, western European modernism often attempts to be ambiguous, without answers.