Avet Terterian: Der Komponist heute

Übersetzung aus dem Russischen: Hannelore Gerlach
Veröffentlicht in: Sowjetskaja Musyka 7/1988, S. 15 – 19, (russ.),
deutsch in: Kunst und Literatur 3/1989, S. 100 – 101


Ein westeuropäischer Journalist fragte mich einmal nach meinem Verhältnis zur Mystik. Ich antwortete ihm, daß jene Mystik, die er meint, ein sehr bequemes Wort für ungebildtete Leute sei. Man kann sich leicht dahinter verstecken. Alles ihnen Unverständliche, Unzugängliche schreiben sie leichthin der Mystik zu. Das Bedürfnis zu lernen und zu Erkenntnissen zu gelangen ist bei solchen Menschen überhaupt nicht mehr vorhanden. Alles ist für sie Mystik. Dagegen kommt man nicht an. Aber nur Wissen kann doch die Tabus der Mystik aufheben. Von dem Versuch, in ihr Wesen einzudringen, gar nicht erst zu reden.

Besteht die Gefahr, die Leute den Popen in die Arme zu treiben? Welche Leute? Ein wahrhaft großer Künstler wird kein Geistlicher, und wenn doch, so wird er sehr bald von der Kirch exkommuniziert werden, denn er kann das «dämonische Element», das er immer in sich trägt, nun einmal nicht verleugnen. (Über das Element des Dämonischen in der Kunst hat sich Garcia Lorca wunderbar geäußert.)

Man muß alles wissen. Vielleicht holt sich mancher Beulen, aber kann man sich etwa an Dummköpfen orientieren? Die Hingabe an die Musik, an die künstlerische Arbeit ist also die wichtigste Etappe, die Hohe Schule der Ausbildung! Es ist die Erkenntnis einer übersinnlichen Welt, jener Welt, in der die Musik existiert, ohne gegenständliche Prototypen in der realen Welt zu haben. Es ist die Erkenntnis aller jener Dinge, ohne die das Eindringen in das Wesen von Erscheinungen und in die Geheimnisse des Klanges unmöglich ist. Nur Erkenntnis ermöglicht das tiefe Versenken in einen Zustand, in dem der Mensch, wenn er über eine besondere Gabe verfügt, das Unhörbare zu hören vermag: die Bewegung von Erde und Kosmos.

Natürlich ist solche Hingabe überhaupt nichts wert, wenn der Künstler nicht auf der Höhe der Zeit steht. Wenn ihm nicht alles, was ihn in dieser Welt umgibt, lieb und teuer ist, wenn ihn das Schicksal der Menschheit und die Gefahr einer möglichen Katastrophe nicht interessieren.

Ein Künstler kann sich nicht wohlfühlen, wenn es auch nur einen Menschen auf dieser Erde schlecht geht. Die Seele muß ihm davon schmerzen. Ein Künstler kann nicht sein, wer nicht erfüllt ist von Verantwortungs- und Pflichtbewußtsein, von der Liebe zu seinem Heimatland. Gerade die Gesamtheit solcher Persönlichkeitsmerkmale und der Grad der Erkenntnis machen den wahrhaft großen Künstler aus. Und seine Musik wird natürlich nur dann zu einer Realität, wenn der Komponist das Gehörte mit einer besonderen Sensibilität für diese Welt in Klänge umsetzt, die in den Gesamtorganismus der Welt einfließen und zugleich ein Eigenleben auf dieser Erde führen. Künstlerisch wirken heißt dem Hörer Neues bringen, ihm etwas mitteilen, was er bis dahin noch nicht gehört hat.

Hin und wieder vermag ein Künstler, wenn er Geist und die Intuition des Talents hat, mit seiner Kunst der Zeit vorauszueilen, Kommendes anzudeuten, zu warnen, in eine bestimmte Richtung zu weisen, sich über räumliche Grenzen hinwegzusetzen. Die Geschichte der Kunst kennt solche Beispiele.

Noch einmal: Künstlerisches Schaffen bedeutet geistige Hingabe. Zugleich ist es ein einzigartiger Weg zur Selbsterkenntnis, besonders für unseren hastig durch die Zeit eilenden Zeitgenossen. Es ist ein langer Weg, der das ganze Leben beanspruchen kann, aber es ist auch ein schöner Weg.

Jedes Individuum wählt aus den nachhaltigen Lebenseindrücken für sich das aus, was seiner seelischen Verfassung besonders nahe kommt, es bestätigt sich in seinem Empfinden und seinen Erfahrungen durch bestimmte Informationen, bereichert sich durch äußere Einflüsse wie auch von innen heraus. Es prägt sich also eine Persönlichkeit aus, die die Kultur, das gesamte Potential kultureller Erfahrungen der Menschheit in sich trägt, die also Informationsträger ist. Nur einer solchen Persönlichkeit sind die Geheimnisse der Musik bekannt und auch verfügbar. Denken wir nur an die Äußerung Pawel Florenskis, daß die Kunst etwas mit Erinnerung zu tun hat. Der Mensch kann sich nicht an etwas erinnern, was in ihm nicht vorhanden ist. Kann man etwa von sich und seinen Werken meinen, zur großen Musik der Gegenwart zu gehören, wenn man nicht einmal die geisteswissenschaftlichen Leistungen unserer Zeit kennt? Ich schätze zum Beispiel die glänzende Arbeit Rudolf Steiners Das Wesen des Musikalischen und das Tonerlebnis im Menschen. Und ein Schüler Steiners, Emil Bock, führt uns in seinem überaus interessanten Kommentaren zur Bibel noch weiter, in eine übersinnliche Welt. Hier haben wir das Beispiel eines direkten Weges vor uns.

Natürlich soll das keineswegs heißen, daß man nach der Lektüre solcher und vieler anderer, nicht minder interessanter Bücher ohne weiters Zugang zur großen Musik findet und daß ein Komponist daraufhin gute Musik zu schreiben beginnt. Nein! Das muß man alles erst mit seinem ganzen Wesen nachempfinden und verstehen, bis es tief im Bewußtsein verwurzelt ist.

Nicht minder wichtig ist, sofern es sich um einen Künstler handelt (und im Mittelpunkt meiner Erörterungen steht eben doch der Künstler, der Komponist), die von ihm gewählte Lebensweise, sein ethisch-moralisches Credo. Ganz nebenbei gesagt, vermag ein Musiker, der Komponist werden wollte und es in Ermangelung einer starken Persönlichkeit und vielleicht auch hinreichenden Schaffensdranges nicht geworden ist, immerhin die Welt der Musik zu begreifen. Zumindest weiß er, wie er dieses Phänomen einzuordnen hat, woher es kommt.

Wir haben vergessen, was Musik eigentlich ist, womit sie begonnen hat. Und solange wir nicht die Polyphonie des einzelnen Tones zu erfassen vermögen, entgeht uns seine Aufgliederung in eine Vielzahl der kleinsten Klangeinheiten. Wir denken immer noch, daß ein Ton die kleinste Einheit der Musik sei. So hat man es uns beigebracht. Und dem europäischen Hörer bleibt ein tiefes Eindringen in den Einzelton mit wenigen Ausnahmen völlig verschlossen. Es fällt ihm schwer, Musik des fernen Ostens und des Orients zu hören, weil ihm die Zeichen- und Symbolsprache dieser Musik unbekannt ist, die überaus tiefe Versenkung in den Klang für ihn etwas Unerreichbares ist. Man hat es ihn nicht gelehrt. Man hat ihn nicht fähig oder empfänglich gemacht für jenen nach meiner Ansicht einzig möglichen Zustand innerer Ruhe, in der sich der Musikhörende befinden sollte. Die Nichtigkeit und Hast einer urbanisierten Lebensweise bringt viele um den höchsten Genuß. Um etwas ihnen nicht Zugängliches, also für sie nicht Existentes.

Großen Schaden richet auch das konkret-assoziative Musikhören an, das die Vieldeutigkeit des Klangereignisses, das semantische Wesen des Tones als Ausgangspunkt aller Musik zerstört bzw. nicht wahrnehmen läßt. Vor den Augen eines solchen Hörers läuft gleichsam ein Film ab: Hörend sieht er Bilder. Das kulturelle Niveau einer Persönlichkeit muß stark ausgeprägt sein, damit sie eine solche Rezeptionsweise überwinden kann. Und die Fähigkeit hierfür ergibt sich wiederum nur aus der Kenntnis der verschlüsselten Bedeutung von Musik, ihrer spezifischen Symbolik. Hier ist Erfahrung entscheidend. Das muß man selbst lernen. Das ist nicht lehrbar, auch wenn man häufig Plakate mit der Ankündigung solcher Vorträge «Wie hört man Musik» sehen kann.

Noch etwas zu den Hörern. Ihre Beschlagenheit in Sachen Musik ist zum Teil so groß, daß ich bezweifle, ob überhaupt jeder Musiker des Umgangs mit ihnen würdig ist. Das geistige Niveau solcher Hörer, ihre umfassende Bildung, die sich oft mit einer angeborenen Fähigkeit des Hörens verbindet, ist derart hoch, daß mir mancher Musiker dagegen wie jemand erscheint, der lediglich Noten kennt, das heißt der weiß, wie sie geschrieben werden und wo sie auf dem Instrument zu finden sind. Nicht mehr.

Leider sind die Begriffe «Musiker» und «Hörer» durchaus nicht immer adäquat. Mitunter habe ich den Eindruck, daß der Hörer über dem Komponisten steht, weil der Künstler zwar über schöpferische Intuition verfügt, aber die Geheimnisse der von ihm verwendeten Klangwelt nicht kennt. Dem Hörer dagegen sind sie bekannt.

Und wie viele Probleme ergeben sich noch für die musikalische Ausbildung?

Nehmen wir die Zeit als ein in der Musik waltendes Gesetz, ihre Erscheinungsformen in Vergangenheit und Gegenwart, in der europäischen Musik und in der Musik des fernen Ostens und des Orients. Wir wissen, wie sehr sich das Zeitempfinden in den östlichen Ländern von dem in Westeuropa unterscheidet. Ich betone, es geht um das Erleben der Zeit.

Warum wehren sich denn in Indien so viele gegen das Eindringen euorpäischer Einflüsse in die indische Musik? «Sie verändert die Zeit», sagen diese Inder. Das mag ein strittiges Problem sein, Aber wissen muß man darum. Bekommt man das gelehrt? Nein.

Die europäische Musik kennen wir alle gleichermaßen, sowohl ich selbst als Vertreter des Orients wie auch der Westeuropäer. Mein Glück besteht darin, daß der Orient von Geburt an tief in mir verwurzelt ist und ich dieses Erbgut sorgsam hüte. Aber beraubt sich der Europäer nicht selbst, wenn er die Musik des Orients und des fernen Ostens nicht von Kindheit an studiert?

Meiner Ansicht nach ist das eine berechtigte Frage. Die Musik einiger europäischer Komponisten, die mit der Musik des Ostens nur kokettieren, wirkt doch wohl recht naiv. Für viele ist sie in ihren äußeren Merkmalen erfaßbar. Genaugenommen hat seinerzeit nur die Intonation der übermäßigen Sekunde das orientalische «Kolorit» in der Musik bewirkt, sonst nichts. Ist nur das, was tiefer geht und dem ungeübten Ohr verschlossen bleibt, erfahr- und erkennbar? Ja, das ist es.

Unsere armenische Musik hat eine schwierige Entwicklung durchgemacht. Historische Situationen haben immer wieder den natürlichen Lauf der Musikentwicklung unterbrochen. Und selbst in der neueren Zeit mußte man so bedeutende Lehrer wie Rimski-Korssakow (im Falle Spendiarows) oder Mjaskowski (im Falle Chatschaturjans) um Unterstützung bitten. Es begann eine intensive Aneignung der europäischen Musikkultur. Erst dann konnte man an die Überwindung der verbindlichen Regeln europäischen Musikdenkens gehen, ein Prozeß, der viel Zeit beanspruchte. Während sich in Spendiarows Schaffen Einflüsse dieses Denkens noch sehr deutlich äußern, sind sie bei Chatschaturjan schon weitaus weniger spürbar. Vieles, das in der Musik nationaler Schulen an Neuem entstanden ist und entsteht, erweist sich als rein europäisch, lediglich mit einem nationalen Akzent. In letzter Zeit legt auch manch einer unserer Komponisten lang und breit seine Auffassung von der Notwendigkeit einer nationalen Musiksprache dar, dann erklingt seine Musik, und die ist aus irgendwelchem Grunde beispielsweise ganz französisch oder ganz deutsch.

Es gibt noch sehr viele Probleme der musikalischen Ausbildung in den einzelnen Republiken, und das zuletzt genannte ist nur eines von ihnen. Auch hier hat jeder Lehrer noch eine große Aufgabe vor sich.

War nun die musikalischen Ausdrucksmittel betrifft, so sollten aus dem über Jahrhunderte Angesammelten einfach diejenigen gewählt werden, die am ehesten dem Denken und Fühlen sowie den Traditionen einer Nation entsprechen. Natürlich waren das gestern andere Mittel, als es morgen sein werden.

Damit könnte man eigentlich schließen, doch soll noch gesagt werden, welche kompositorische Ausbildung mir vorschwebt: die Schule – ein Gymnasium, ein «richtiges Gymnasium», eine Zeit des Lernens. Es sollten unbedingt, falls es sie noch gibt, die sogenannten, «letzten der Mohikaner» gefunden werden, die früher ein Gymnasium besucht haben. Und man sollte sie danach fragen, was und wie sie gelernt haben. Genügte doch seinerzeit diesen Leuten allein die Ausbildung am Gymnasium fürs ganze Leben, um nicht nur gebildet zu scheinen, sondern es auch zu sein.

Das Konservatorium – als Stätte der handwerklichen Ausbildung, des Komponierens. Hochschule und heilige Stätte der Hingebung, der Erkenntnis. Vielleicht wäre es gut, die Qualifikation einem Komponisten erst nach dieser Ausbildungsphase zu verleihen.

Allerdings hat das Fehlen einer echten Bildung, das heißt des Dranges nach selbständiger Aneignung von Bildung eine Athmosphäre aufkommen lassen, die bereits äußerst intensiv auf den Ausbildungsprozeß zurückwirkt. Denn die Bildung und die gesellschaftliche Athmosphäre, in der die Ausbildung vor sich geht, stehen im engen Zusammenhang miteinander. Viele unserer Kollegen, die weder eine echte Ausbildung absolviert haben noch zum schöpferischen Wirken berufen sind, erlauben sich heute, Sinfonien, Oratorien, Oden und Kantaten zu schrieben, wobei sie oft noch auf die Zugkraft bedeutender Themen aus der revolutionären Vergangenheit oder des 1941 hereingebrochenen Krieges spekulieren.

Und wie viele Opern und Ballete gibt es, in denen die Musik ihrem Wert nach einen der letzten Plätze einnimmt, irgendwo nach den Kostümen oder gar den Masken. Wer inszeniert, spielt, druckt und nimmt diese Musik in sein Programm auf? Wer schafft für solcherart Musik die entsprechende Athmosphäre? Das sind Leute mit dem gleichen Niveau wie diese Komponisten.

Und hier erinnert man sich unwillkürlich jener Zeiten, in denen wenig gebildete oder gar absolut ungebildete Schreiberlinge darauf verfielen, das geistige Leben ihrer Gesellschaft zu «bedienen» und sich hierfür in allen möglichen Verbänden (wie zum Beispiel der RAPM, der Assoziation proletarischer Musiker Rußlands, u.a.) zusammenschlossen. Das war eine Periode der Zerstörung der Kunst, und gerade in dieser Zeit haben sich große Komponisten wie Prokofjew, Schostakowithsc und Chatschaturjan mühselig durchgekämpft, was sie viel physische, psychische und natürlich schöpferische Kraft kostete. Wenn man das nun für die damalige Zeit noch mit sozialen Problemen erklären kann, so ist derartiges unter heutigen Bedingungen noch geführlicher und durch nichts zu erklären. Leider bewegt sich dies alles im Kreise.

Genau wie früher drängen einige Komponisten, die gerade eine elementare Konservatoriumsausbildung abgeschlossen haben, danach, Schlüsselpositionen einzunehmen. Selbst noch keine Persönlichkeiten, geistig noch unreif, haben sie in der Musik noch nichts Neues (und sei es auch nur wenig) vorgelegt, sich selbst keine neuen Aufgaben gestellt. Ohne den geringsten Versuch, sich mutig an die Lösung künstlerischer Probleme heranzuwagen, schreiben sie eine vorsichtige, ich würde sagen greisenhafte Musik. Daß nur ja nichts passiert! Man könnte sie plötzlich zu Avantgardisten erklären, und futsch ist die Karriere!

Ich erlaube mir zu bemerken, daß selbst der Avantgardismus, trotz aller Einschränkungen, der Kunst mitunter mehr zu geben vermag als das Auf-der-Stelle-Treten. Denn wenn es sich um einen wirklichen Künstler handelt, so wird er sich kraft seines großen Talents und seiner Fähigkeit zu geistiger Durchdringung die von der Avantgarde gefundenen, noch wenig ausgeprägten Gestaltungsmittel zu unterwerfen wissen und sie in den Dienst seiner anspruchsvollen künstlerischen Idee stellen.

Gerade die Jungen sollten doch die Grenzen der Kunst «sprengen». Ohne «Explosionen», ohne künstlerischen Wagemut gibt es keine Vorwärtsentwicklung.

Aber diese Jungen, von denen hier die Rede ist, haben ein bewährt durchschnittliches Niveau, und an ihm halten sie beharrlich fest. Das ganze Unglück besteht darin, daß ihre Musik für den weniger aufmerksamen Hörer einen gewissen Standard neuer Musik durchaus gerecht zu werden scheint. Alles hat den Anschein allgemein üblicher Musik mit sämtlichen Merkmalen von Seriosität. Nur ein Geheimnis gibt es hier nicht. Keine geistig gehaltvolle Musik. Eine Musik ohne Adressat – so würde ich sie nennen. Handwerkelei. Am Konservatorium vermitteltes Handwerk. Unbildung bedarf nicht der Selbstbestätigung durch Musik. Sie geht andere Wege, Umwege. Sie schafft eine Athmosphäre der Geistlosigkeit. Und ein Konservatorium vermag hier wenig auszurichten. Ein Konservatorium hat andere Aufgaben.

Solche Begriffe wie Reinheit und Einheit des Stils, wie Architektur, also genaue Ausformung des Musikwerkes, sind völlig vergessen, Man kann eine Sinfonie jederzeit «Eklektische Sinfonie», eine Sonate «Fragmentarische Sonate» nennen usw., man kann auch die «künstlerische» Aufgabe eines Werkes hochstilisieren, indem man es als «mehrfach kulminierend», «primitv konzipiert», «antimusilaisch aufgebaut – also mit einem Anflug von schlechtem Geschmack» bezeichnet und den Kritikern in dankbarer Ergebenheit dafür die Hände drückt, daß sie all dies auch bemerkt haben. «Vielen Dank, genau das war auch die Absicht», sagen diese «Komponisten».

Und noch etwas. Das Werk ähnelt Bartók? Also ist es auch Bartók gewidmet. Er klingt nach Schostakowitsch? Also ist es Schostakowitsch gewidmet usw. Wie bequem ist es, einem Menschen dessen eigenen Hut zu schenken. Aber es kommt auch vor, daß die Kopie einen breiten Hörerkreis früher als das Original erreicht. Dann fehlt selbstverständlich die Widmung.

Wie viele talentierte Menschen gibt es, die auch (!) zu komponieren vermögen. Sie haben sich selbst zu Komponisten erklrät und freuen sich nun ihres Daseins oder fristen es nur.

Ihnen fehlt das Wichtigste: die Fähigkeit zu kompositorischem Denken. Komponist sein heißt ein spezifisches Talent zu besitzen, über hochempfindliche «Sensoren» zu verfügen. Aber diese Leute können vielleicht hervorragende Interpreten sein! Und wie viele talentierte Musiker können sich als Arrangeur betätigen! Und wie viele dieser mittelmäßigen Komponisten können die Besucher von Restaurants und Cafés oder von bunten Veranstaltungen erfreuen.

Aber sie alle sind der verhängnisvollen Auffassung vom «Prestigeberuf» erlegen und schreiben «Sinfonien». Das ist ihr Unglück. Und ich meine, nicht nur ihres.

Wenn jemand Musik schreibt, dann gebt ihm auch zu essen! Überall die gleiche Unverfrorenheit. Die Studenten sehen das aber, sie sehen alles und stellen fest: Aha, so geht’s auch…

Gegenwärtig ist sogar das Mittelmaß schon bis zur untersten Grenze herabgesunken. Wir müssen Alarm schlagen, und wir schlagen ihn. Davon zeugt unser kürzlich durchgeführtes Plenum. Der unzureichend ausgebildeten grauen Mitte keinen Raum mehr geben – das ist unsere Aufgabe! Aber wie schwer sich das umsetzen läßt, zeigt die Praxis im georgischen Komponistenverband. Gerade die Mittelmäßen predigen und behaupten den Gedanken, daß es unmöglich sei, die Grenzen genau festzulegen und ein Talent vom Mittelmaß zu unterscheiden. Wer will behaupten, daß der eine besser sei als der andere, fragen sie. Gerade so, als wären alle gleich. Gleichmacherei kommt ihnen sehr zustatten. Mittelmaß neigt zur Vereinigung.

Wenig gebildete Musiker mit minimalen Vorstellungen von Musik haben sich auch in der mittleren Ebene des Staats- und Parteiapparates sowie in der Leitung der Verbandsorganisationen festgesetzt. Sie haben einander innerhalb der einzelnen Republiken wie auch des Landes insgesamt gesucht und gefunden. «Unsere» tun sich mit «Euren» auf der mittleren Verbandsebene wie auf administrativer Ebene zusammen, entscheiden über wichtige Fragen und unterminieren auf diese Weise gleichsam von innen her die Säulen der großen Musik. Daher auch die bisweilen unbedarft zusammengestellten Programme zu Plenen, Festivals und Kongreßen, Programme, die unsere Musik in Mißkredit bringen. Diese Leute schaffen eine Athmosphäre, die sich unweigerlich auch auf den Bildungsprozeß auswirken muß. Sie erziehen den Geschmack, versuchen ihn in eine bestimmte, vor allem ihnen genehme Richtung zu lenken.

Größere Bedeutung muß auch der Kritik beigemessen werden. Gerade die Musikwissenschaft stellt für das Mittelmaß eine besondere Gefahr dar (daher auch der ständige Haß ihr gegenüber). Kennen doch Musikwissenschaftler – bei aller Begrenztheit der Ausbildung am Konservatorium – auf Grund der Spezifik ihres Berufes (sie müssen zumindest viel Fachliteratur lesen) sehr viel mehr Komponisten. Auch hier dienen selbstverständlich mittelmäßige Musikologen mittelmäßigen Komponisten, aber ein ehrlicher, gebildeter Musikwissenschaftler, der sich nicht in den Dienst der Konjunktur stellt und die Vorgänge zu durchschauen vermag, bringt die Karten der Pseudokomponisten ordentlich durcheinander (im positiven Sinne des Wortes): Er nennt die Dinge bei ihrem Namen, zeigt Geistlosigkeit auf, wo Geistlosigkeit vorliegt.