Press Release

Das Staatstheater am Gärtnerplatz, Pressemitteilung

München, 12. Februar 2003

Sehr geehrte Damen und Herren,

Für 16. März 2003 möchten wir die Uraufführung der Oper DAS BEBEN von dem armenischen Komponisten Awet Terterjan ankündigen, die außergewöhnlich zu werden verspricht:

Sonntag, 16. März 2003, 19 Uhr

-Uraufführung-

Awet Terterjan (1929-1994)

DAS BEBEN

Oper in zwei Teilen

Libretto von Gerta Stecher und Awet Terterjan

nach der Novelle DAS ERDBEBEN IN CHILI von Heinrich von Kleist

Musikalische Leitung: Ekkehard Klemm

Inszenierung: Claus Guth , Raum und Kostüme: Christian Schmidt
Das Staatstheater am Gärtnerplatz hat im Laufe der letzten 50 Jahre immer wieder Opern uraufgeführt (u.a. von Hans Werner Henze, Wilfried Hiller und Siegfried Matthus). Eine Reihe von Werken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Opern z.B. von Strawinsky, Orff, Egk, Bialas, Henze oder Reimann – wurden in den letzten Spielzeiten ins Repertoire aufgenommen. 1999 wurde in Zusammenarbeit mit der Münchener Biennale für zeitgenössisches Musiktheater die Oper WENN DIE ZEIT ÜBER DIE UFER TRITT von Wladimir Tarnopolski uraufgeführt. Auch für 2004 ist wieder eine Uraufführung in Zusammenarbeit mit der Biennale geplant.

Die Uraufführung der Oper DAS BEBEN des armenischen Komponisten Awet Terterjan darf besonderes Interesse beanspruchen. Die monumentale Kraft seiner Musik, die sich auch in seinen acht Symphonien ausdrückt – die Fünfte wird beim diesjährigen MaerzMusik-Festival in Berlin aufgeführt – kennzeichnet Terterjans Oper. Der Komponist fordert in der Partitur die szenische Einbeziehung einzelner Instrumentengruppen. Wir werden deshalb die starre Dreiteilung Bühne-Graben-Zuschauerraum aufheben und den ganzen Theaterraum klanglich einbeziehen.

Die musikalische Leitung hat unser stellvertretender Chefdirigent Ekkehard Klemm, der 1986 für die Uraufführung des vom Landestheater Halle und der Leipziger Edition Peters in Auftrag gegebenen Werkes vorgesehen war, die nicht stattfand. Es inszeniert Claus Guth, einer der gefragtesten Regisseure des europäischen Musiktheaters. Vor allem mit Uraufführungen zeitgenössischer Werke des Musiktheaters (u.a. von Berio, Ruzicka, Chernowin, Huber) hat er sich einen Namen gemacht, ebenso wie Christian Schmidt, sein Partner für Raum und Kostüme. Für 2003 ist ihr Debüt bei den Bayreuther Festspielen mit DER FLIEGENDE HOLLÄNDER geplant.

Mit freundlichen Grüßen,

Konrad Kuhn, Pressesprecher


ZUM STOFF

Die Novelle DAS ERDBEBEN IN CHILI von Heinrich von Kleist erzählt einen Vorfall, der sich bei der Zerstörung der Stadt Santiago de Chile 1647 zugetragen haben soll. In der Entgegensetzung von zerstörerischer Naturgewalt, die gesellschaftliche Strukturen außer Kraft setzt, und einer in der Naturschilderung deutlich mit paradiesischen Attributen gekennzeichneten, durch die Katastrophe erst möglich gewordenen Erlösungshoffnung, der dann durch die hysterisierte Masse der entwurzelten Menschen ein mörderisches Ende bereitet wird, hat Kleist mit seiner ersten Erzählung, geschrieben 1806, einen philosophisch extrem verdichteten Text geschaffen, der auch als “Beben des Sinns” gelesen werden kann. Der armenische Komponist Awet Terterjan entschied sich für Kleists Stoff, als er den Auftrag für seine zweite Oper (nach DER FEUERRING, 1967) erhielt. Die Handlung, getragen von zwei Hauptfiguren, SIE und ER, von wenigen Solisten und vom Chor, verarbeitet die Grundstruktur der Kleist-Novelle in freier Art und Weise:

Die Tochter eines Adeligen ist in ein Kloster gesteckt worden, um sie von ihrem Geliebten, dem Hauslehrer, zu trennen. Dennoch ist es den Liebenden gelungen, sich im Klostergarten zu treffen und zu vereinen. Daraufhin werden beide zum Tode verurteilt. Kurz vor der Hinrichtung werden sie durch ein Erdbeben befreit und treffen sich vor den Toren der zerstörten Stadt wieder. Um an einem Gottesdienst teilzunehmen und Gott für ihre wundersame Rettung zu danken, begeben sie sich in die halbzerstörte Kathedrale in der Stadt. Sie werden erkannt und als schuldig an der Heimsuchung gebrandmarkt. Die aufgebrachte Menge tötet sie.


ARMENISCHE KULTUR

Awet Terterjan, der im Dezember 1994 unerwartet in Jekaterinburg starb, ist in den letzten Jahren vor allem durch seine Symphonien mehr und mehr bekannt geworden. Seine Musik greift einzelne Techniken, die auch für die westlichen Avantgarden der letzten Jahrzehnte charakteristisch sind, auf: Tonbandzuspielungen, aleatorische Elemente, ostinate Wirkungen, blockartige Großformen, mikrotonale Passagen, ungewöhnliche Klangfarben (z.B. durch den Einsatz des Cembalos oder auch überdimensionaler Schlaginstrumente). In der Beherrschung solcher Techniken ist Terterjan anderen Meistern aus der ehemaligen Sowjetunion wie Schnittke, Denisov, Gubaidulina oder Kancheli vergleichbar. Zugleich schöpft Terterjan aus den archaischen Traditionen der armenischen Musik, ohne je folkloristisch zu sein. Durch seine Verwurzelung in der bei uns wenig bekannten armenischen Kultur erschließt sich ihm auch der Orient mit seinem vollkommen anderen Zeitempfinden. Über Terterjans Musik liegt eine düstere Grundstimmung, die man vor dem Hintergrund seiner Herkunft sehen muß. Seit Jahrtausenden südlich des Kaukasus, zu Füßen des Ararat (dem biblischen Landeplatz der Arche Noah), am Schnittpunkt von Orient und Okzident beheimatet, später als christliches Volk unter Muslimen, waren die Armenier immer wieder aufs Neue Verfolgungen ausgesetzt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren das armenische Volk, seine Sprache und seine Kultur durch den Genozid des jungtürkischen Regimes im Osmanischen Reich – planmäßige Deportationen und Massenhinrichtungen, denen schätzungsweise 1,5 Mio. Menschen zum Opfer fielen – in ihrer Existenz bedroht.


ÜBER DIE MUSIK

In der Oper DAS BEBEN fehlen melodische Wendungen nicht, werden aber eher als Klanggesten eingesetzt, die in Kontrast zu farbigen Flächen treten. Motivische Arbeit spielt eine untergeordnete Rolle. Der Ansatzpunkt des Komponierens ist der einzelne Ton, oft über lange Zeiträume gedehnt. “Im Ton ist die ganze Welt”, sagt Awet Terterjan. – Diese Beschäftigung mit dem einzelnen Ton ist durchaus metaphysisch zu verstehen: Musik als Medium, um mit dem Kosmos in Verbindung zu treten.

Trotz ihrer Statik vermittelt die gut durchhörbare Musik Terterjans, in der – außer Tonbandzuspielungen zuvor aufgenommener Klangflächen – keine elektronischen Mittel zum Einsatz kommen, den Eindruck eines unaufhörlichen Fließens. Abgesehen von punktuellen Klangereignissen werden die Klangschichtungen so variiert, daß verschiedene Zustände zueinander in Beziehung treten, sich gegenseitig beleuchten, sich überlagern und so wie durch ein Prisma gebrochen erscheinen; man könnte, in einer paradoxen Formulierung, von “statischen Vorgängen” (Ekkehard Klemm) sprechen. In z.T. weiträumig angelegten Formabschnitten erzeugen diese Klangflächen Steigerungen von archaischer Wucht, mit denen Abschnitte der Stille und des Verklingens kontrastieren. Die vom Grundcharakter her symphonische Musik wird dadurch selbst zum Movens des musiktheatralen Geschehens, das sich dramaturgisch am Handlungsstrang der Kleist-Novelle orientiert.

Ausgangspunkt des Komponierens von Awet Terterjan, der seine Werke abseits der Metropolen in der rauen Bergwelt Armeniens, in Dilidschan und am Sewansee geschaffen hat, ist die das Mystische streifende Überzeugung, in seiner Musik die großen Menschheitsfragen von Schuld und Erlösung kontemplativ und mit äußerst emotionaler Gebärde zur Sprache bringen zu können. Die Musik ist ihm dabei Mittel zur Erkenntnis, nicht ästhetische Spielwiese. Awet Terterjan: “Das Komponieren ist eine Art des Denkens, eine Eigenschaft und eine besondere Laune des Verstandes. Der Komponist ist ein Mensch, der in einem gewissen Zustand des musikalischen Schöpfertums verweilt. Was den Komponisten besonders auszeichnet, ist sein Vermögen, das zu hören, was einem Menschen, der dieses Talent nicht besitzt, verborgen bleibt.”

Wir sind überzeugt, daß die Uraufführung der Oper DAS BEBEN, 19 Jahre nach ihrer Entstehung – jenseits des Theateralltags mit seinem mehr oder weniger kanonisierten Repertoire, aber auch abseits der spezialisierten Festivals mit ihrem für neue Musik geschulten Fachpublikum, also für das ‚große Publikum’ – ihre seismischen Wellen über die Grenzen unseres Theaters hinaus entfalten wird.


Weitere Aufführungstermine:

Dienstag, 18. März 2003, 19.30 Uhr

Sonntag, 23. März 2003, 19.00 Uhr

Freitag, 4. April 2003, 19.30 Uhr

Sonntag, 6. April 2003, 19.00 Uhr

Donnerstag, 10. April 2003, 19.30 Uhr

Donnerstag, 8. Mai 2003, 19.30 Uhr

Montag, 12. Mai 2003, 19.30 Uhr

Einführungsmatinée: Sonntag, 2. März 2003, 11 Uhr

Mit dem Team der Uraufführung, Leitung: Klaus Schultz

Operncafé mit Irina Tigranowa-Terterjan: Sonntag, 16. März 2003, 11 Uhr

Die Witwe des Komponisten im Gespräch über Awet Terterjan und sein Schaffen