Mátyás Kiss: Kraft der Einzeltöne

Eine Plattenbesprechung in der nmz vom Oktober 2002, Heft 10/02, Seite 18:

The Dresden Symphoniker
Kraft der Einzeltöne
Musik aus Tadschikistan, Georgien, Aserbaidschan und Armenien:
Gija Kantscheli: …à la Duduki; Benjamin Yusupov: Nola; Fikret Amirow: Gülistan Bayaty Shiraz – Symphonischer Mugam; Awet Terterjan: 3. Sinfonie; Matthias Ziegler, Flöten; Dresdner Sinfoniker, Ltg.: Michael Helmrath.
Arte Nova/BMG 74321 82556 2 (2 CDs)

Ein außergewöhnliches Konzertereignis vom 16. Juli 1999 dokumentiert eine preiswerte Doppel-CD: symphonische Werke des Nahen und Mittleren Ostens, großartig gemeistert von den Dresdner Sinfonikern unter Michael Helmrath, der seine Karriere als Solooboist unter Celibidache begann und dem Orchester seit 1997 vorsteht. Ungewöhnlich war der Abend schon deswegen, weil Musik aus so entlegenen Weltgegenden, die mehr durch kriegerische Vorfälle als durch kulturelle Leistungen in die Schlagzeilen zu geraten pflegen, bestenfalls von landeseigenen Interpreten aufgeführt und (seltener) auf Tonträgern festgehalten werden. Die Ausnahme von der Regel bildet der längst berühmte, aus dem georgischen Tiflis stammende Gija Kantscheli: Dessen „…à la Duduki“, eine düstere Trauermusik voll schroffer Dynamiksprünge, spielt auf ein Oboeninstrument an, das „den Klang der menschlichen Seele assoziiert“. Wie der Vergleich mit der Studioversion bei ECM zeigt, bringen die Dresdner das monolithische Stück erstaunlich verlustfrei über die Rampe. Zwei nur wenig ältere, aber bereits verstorbene Tonsetzer repäsentieren benachbarte Länder: Fikret Amirow (1922-84) aus Aserbaidschan hat zeitlebens versucht, Liedmelodien und die Form des traditionellen Mugam – Modus und mehrteilige Form in einem, analog dem Maqam der arabischen Musik – in die Sprache des westlichen Orchesters zu integrieren. Der symphonische Mugam No. 3 beschwört eine orientalische Atmosphäre herauf, die sich in ihrem feierlichen Ernst weit über Ansichtskartenfolklore und filmmusikalischen Kitsch erhebt. Die dritte Sinfonie des Armeniers Awet Terterjan (1929-94) gelangt hiermit ein drittes Mal zu diskografischen Ehren: Außer der aus der türkischen Musik geläufigen Zurna erklingt hier das bei Terterjans Freund Kantscheli beschworene Duduk ganz real. In eklektischer, jedoch ganz eigenständiger und fesselnder Manier versetzt Terterjan archaische Klänge in den Kontext avancierter Verfahren wie Cluster oder Aleatorik – im Vertrauen auf die Kraft von Einzeltönen, die sich umso suggestiver entfalten können, als sie von schweren Schlagwerkgewittern flankiert werden. Aus einem Gebiet viel weiter östlich stammt der auch deutlich jüngere Tadschike Benjamin Yusupov (geb. 1962), der mit „Nola“, einem Konzert für verschiedene Flöten und Streichorchester von 1994, erstmals in westliche Kataloge einzieht. Durch raffinierten Mikrofoneinsatz – ein wenig wie im Spätwerk Luigi Nonos – erscheinen die Töne und Spielgeräusche der Flöte wie unter einer elektroakustischen Lupe und entfalten eine quasi orchestrale Klangfülle, was einen packenden Dialog mit dem wirklichen Orchester ermöglicht.
Mátyás Kiss